SARS-CoV-2: Ablehnung von Verdienstausfallentschädigungen wegen Quarantäne für Ungeimpfte rechtswidrig

Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat in zwei Berufungsverfahren die Urteile des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 19. Dezember 2022 (Az. 16 K 2471/22) und des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 9. März 2023 (Az. 4 K 4354/21) bestätigt, in welchen das Land Baden-Württemberg jeweils verpflichtet wurde, Verdienstausfallentschädigungen im Falle einer behördlich angeordneten Absonderung (Quarantäne) bei festgestellter COVID19-Infektion auch an Ungeimpfte zu gewähren.

Sachverhalt
Die Kläger begehren als Arbeitgeber bzw. selbständig tätiger Versicherungsmakler vom beklagten Land Verdienstausfallentschädigungen für eine behördlich angeordnete Quarantäne infolge einer festgestellten COVID19-Infektion im Oktober bzw. November 2021. Sowohl die Arbeitnehmerin als auch der selbständige Versicherungsmakler waren zum Zeitpunkt der Infektion nicht oder nicht vollständig geimpft und befanden sich in einer mehrtätig angeordneten Quarantäne.

Das beklagte Land lehnte die Erstattung der Verdienstausfallentschädigung in beiden Fällen mit der Begründung ab, die Abgesonderten seien zum Zeitpunkt der Quarantäneanordnung nicht (bzw. nicht vollständig) gegen SARS-CoV-2 geimpft gewesen. Eine Entschädigung sei nach § 56 Abs. 1 Satz 4 IfSG ausgeschlossen, da die Absonderung durch die Inanspruchnahme einer öffentlich empfohlenen Schutzimpfung habe vermieden werden können. In Baden-Württemberg habe jeder bis zum 15. September 2021 die Möglichkeit gehabt, vollständig (d.h. mit zwei

aufeinander folgenden Impfungen) gegen SARS-CoV-2 geimpft gewesen zu sein. Wer die Schutzimpfung nicht wahrgenommen habe, solle nicht auf Kosten der Allgemeinheit und zulasten der Solidargemeinschaft eine Entschädigungszahlung erhalten. Dies habe das Sozialministerium durch Pressemitteilung am 02. September 2021 auch an die breite Bevölkerung klar kommuniziert und in seinen FAQ auf der Homepage veröffentlicht.

In den erstinstanzlichen Verfahren vor den Verwaltungsgerichten Stuttgart und Karlsruhe waren die Kläger erfolgreich. Die Verwaltungsgerichte verurteilten das Land jeweils zur Zahlung der Verdienstausfallentschädigungen in Höhe von 600,03 EUR und 933, 81 EUR, da die Absonderung durch Inanspruchnahme der Impfung nicht mit der von § 56 Abs. 1 Satz 4 IfSG geforderten hohen Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen sei, weil die Impfstoffe nur zu ca. 75% vor einer Ansteckung geschützt hätten. Die gegen diese Entscheidungen eingelegten Berufungen des Landes hat der Erste Senat des Verwaltungsgerichthofs aufgrund der mündlichen Verhandlung am 20. Februar 2024 zurückgewiesen.

In den Urteilen führt der Erste Senat aus:

Der Anspruch auf Verdienstausfallentschädigung wegen der Quarantäneanordnung besteht trotz unterlassener Impfung, weil die zu dem maßgeblichen Zeitpunkt (Oktober und November 2021) zugelassenen und öffentlich empfohlenen Impfstoffe gegen COVID-19 mit einem Schutz vor Übertragung der Infektion von ca. 70% nicht dem anzulegenden Vermeidbarkeitsmaßstab einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ genügen, der zu einem Ausschluss des Entschädigungsanspruchs nach § 56 Abs. 1 Satz 4 IfSG führt.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 4 IfSG enthält eine Entschädigung nicht, wer „durch“ die Inanspruchnahme einer öffentlich empfohlenen Schutzimpfung eine Absonderung hätte „vermeiden“ können. Die Vorschrift fordert einen Ursachenzusammenhang zwischen der Inanspruchnahme einer Schutzimpfung und der Vermeidung der zu einer Absonderung führenden Infektion. Bei der Frage der Vermeidbarkeit kommt es alleine auf die Vermeidung der Infektion als Voraussetzung für die Absonderungsverpflichtung und nicht die Erreichung weiterer – wenngleich gesellschaftlich erwünschter – Ziele wie etwa der Erzielung einer hohen Impfquote an.

Der vom Gesetz vorausgesetzte Wirksamkeitsgrad der Impfung im Sinne eines Schutzes vor Übertragung der Infektion lässt sich nicht mathematisch exakt und für alle Fallkonstellationen von vornherein zahlenmäßig genau bestimmen. In das Gesetz aufgenommen wurde die Vorschrift mit der Einführung der Masernimpfpflicht. Die Masernimpfung führt zu einem Übertragungsschutz der Krankheit von 98% bis 99%. Hieraus ergibt sich, dass der erforderliche Wirksamkeitsgrad vor Übertragungen auch bei anderen empfohlenen Schutzimpfungen hoch sein muss, um die gesetzliche Folge des § 56 Abs. 1 Satz 4 IfSG auszulösen. Daher reicht im Allgemeinen der Wirksamkeitsgrad einer Schutzimpfung von 90% und mehr aus, um die Rechtsfolge des § 56 Abs. 1 Satz 4 IfSG herbeizuführen, ein geringerer Wirksamkeitsgrad hingegen jedenfalls dann nicht, wenn er deutlich unter 90% liegt. Die vom beklagten Land in Bezug genommenen 72% bis 75% an Schutzwirkung vor Übertragungen, die bloß dem Maßstab einer „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ entsprechen, genügen folglich nicht.